Gestatten, die Fakten
19.03.2011, 18:15
Von Corinna Nohn und Marlene Weiss
In ihre Kindheit fiel die Katastrophe von Tschernobyl. Mit ihnen wurde das Internet groß, sie haben ihre Freunde bei Facebook. Und kaum eine Generation muss gegen so viele Vorurteile ankämpfen wie die der heute 30-Jährigen.
Gut eine Million Menschen in Deutschland werden in diesem Jahr 30, das sind eine Million Lebensentwürfe, Charaktere und Wohnzimmereinrichtungen. Ist es da nicht Unsinn, von "den Dreißigjährigen" zu sprechen?
Gut eine Million Menschen in Deutschland feiern in diesem Jahr ihren 30. Geburtstag. (© iStockphoto)
Andererseits haben sie viel gemeinsam: Der Kalte Krieg endete, als sie noch Kinder waren, mit ihnen wurde das Internet groß, die Welt schrumpfte. Sie haben Möglichkeiten, von denen ihre Eltern nur träumten. Dafür müssen sie sich anhören, sie könnten sich nicht entscheiden.
Es heißt, sie seien die Generation Praktikum, die sich ausbeuten lasse. Die Generation Doof, die durch das Internet verdumme, die Generation Facebook, die virtuelle Bekanntschaften mit Freunden verwechsle. Unpolitisch seien sie, Luxuskinder, die es so gut haben wie keine Generation vorher.
Aber fangen wir doch einmal ganz von vorne an, am 19. März 1981 in einem Kreißsaal eines westdeutschen Krankenhauses - mit einem Leben, das zwar so nie stattgefunden hat, aber exemplarisch ist für die heute Dreißigjährigen. Die Eltern nennen ihre Tochter Stefanie, das ist in diesem Jahr der beliebteste Mädchenname; für Jungen ist es Christian. Steffi wird im Kindergarten also nicht die Einzige mit diesem Namen sein, aber auf Individualität kommt es ihren Eltern nicht so an. Ihr Kind soll vor allem glücklich aufwachsen und eine gute Ausbildung bekommen. Tatsächlich stehen die Chancen dafür nicht schlecht: Etwa vierzig Prozent der Kinder aus diesem Jahrgang werden Abitur machen, und es werden mehr Mädchen als Jungen unter ihnen sein, wie immer von 1990 an.
Die Ferien verbringt die Familie am Gardasee, jedes Jahr drei Wochen auf demselben Campingplatz. Dass Stefanie 20 Jahre später durch Indien und China reisen und ein Praktikum in Manhattan absolvieren wird, kann sich jetzt, Anfang der achtziger Jahre, keiner vorstellen. Das Flugticket nach New York ist nicht unter 2500 Mark zu haben; wer könnte ahnen, dass es im Jahr 2011 keine 500 Euro kosten wird? Die Welt von Stefanies Familie ist, wenn man so will, begrenzt: durch hohe Flugpreise, Passkontrollen und eine Mauer im Osten. Ihre Eltern, die beide mehrere Geschwister haben, wollen nach Stefanie und ihrem älteren Bruder kein drittes Kind mehr bekommen. Sie sorgen sich um die nukleare Bedrohung durch die Sowjetunion und die Umweltverschmutzung; alle reden vom Waldsterben. Nie war die Geburtenrate in Westdeutschland niedriger als 1985.
Am 26. April 1986 explodiert Block vier im ukrainischen Kraftwerk Tschernobyl. Stefanie ist gerade fünf Jahre alt geworden und registriert erst einmal nur, dass sie keine Pilze mehr essen darf und die Eltern umschalten, wenn es im Fernsehen um Tschernobyl geht. Trotzdem erhascht sie manchmal einen Blick auf die Bilder verunstalteter Menschen und Tiere. 25 Jahre später wird die Katastrophe von Fukushima diese Erinnerung wieder wachrufen. Auch Politik wird sie sich nie ohne die Grünen vorstellen können, die sich in Stefanies Grundschulzeit von einer Turnschuhfraktion im hessischen Landtag zu einer fest etablierten politischen Kraft entwickeln. Im Gegensatz zu ihren Eltern wird Stefanie Umweltschutz immer als eine Frage der Realpolitik betrachten.
Die Mauer fällt, als Stefanie acht Jahre alt ist und noch gar nicht so lange begriffen hat, dass es zwei Deutschländer gibt. Im Jahr zuvor, bei den Olympischen Spielen in Seoul, hat sie ab und zu gejubelt, wenn ein Deutscher eine Medaille gewann, und ihre Tante sagte dann: Der ist aus dem anderen Deutschland. Jetzt gibt es plötzlich nur noch eines. Ein paar Jahre später wird sie nach Prag fahren, nach Polen und nach Moskau. Nicht wie früher ihr Onkel aus politischen Gründen. Sondern erst, weil es exotisch und günstig ist, und später, weil es normal ist. Als Stefanie anfängt, sich für Politik zu interessieren, ist der Ostblock längst zusammengebrochen. In Stefanies Zimmer hängt ein Che-Guevara-Plakat, aber sie wird Sozialismus immer für eine gute Idee halten, die leider nicht funktioniert.
Mit 13 verliebt sie sich das erste Mal und tauscht mit dem Jungen aus der Parallelklasse kleine Zettel aus. Zu Hause starrt sie nachmittags stundenlang das Telefon an, als könnte sie das verdammte Ding so zum Klingeln zwingen. Handys sind Anfang der neunziger Jahre riesengroß, die Tarife für Teenager unbezahlbar, SMS kennt noch keiner in Deutschland. Auch Telefonieren übers Festnetz ist noch teuer: Wenn Steffi jemanden anruft, taucht spätestens nach einer Viertelstunde ihre Mutter auf und tippt mit dem Zeigefinger auf die Armbanduhr. Erst 1999 wird ein nennenswerter Anteil der Deutschen ein Mobiltelefon haben - jeder sechste.
Geburt des World Wide Web
199 stellt Tim Berners-Lee am Cern bei Genf das World Wide Web vor. Da ist Steffi zehn. Zwar lässt sie schon jetzt stundenlang auf dem Computer der Nachbarn Lemminge über Treppen und Brücken laufen, aber erst Jahre später richtet sie sich ihre erste E-Mail-Adresse ein: hallohiersteffi@hotmail.com. Es wird nicht ihre einzige bleiben. Aber Mitte der neunziger Jahre ist das Netz noch langsam, Seiten mit Fotos brauchen Minuten, um sich aufzubauen - von YouTube und Internet-TV ist noch keine Rede. Ihre erste E-Mail verschickt Stefanie im März 1998, da nimmt sie an einem Schüleraustausch nach Wisconsin teil. Vom PC ihrer Gastfamilie aus geht die E-Mail an einen Bekannten ihrer Mutter, der den Text ausdruckt und den Eltern vorbeibringt.
Am Telefon spricht sie nur einmal im Monat mit ihrer Mutter, höchstens 20 Minuten lang. Hastig berichtet sie immer nur das Wichtigste, dann muss sie auflegen - die Minute kostet noch 1,44 Mark. Zwei Jahre später, als Stefanie nach dem Abitur mit Work and Travel durch Brasilien reist und jobbt, ist es für sie selbstverständlich, den Eltern und dem daheimgebliebenen Freund E-Mails zu schreiben. Internetcafés gibt es mittlerweile fast überall, Telefonieren ist bezahlbar, und sie hat sich einfach eine brasilianische Prepaid-Karte für ihr Handy gekauft.
Im Ausland überlegt Stefanie, ob sie studieren oder eine Ausbildung machen soll. Die Arbeitslosenquote liegt seit Jahren bei mehr als zehn Prozent, und sie wird privat fürs Alter vorsorgen müssen: Seit der Rentenreform des Jahres 2000 ist klar, dass die gesetzliche Rente für Stefanies Generation nicht mehr ausreicht. Sie entscheidet sich fürs Studium, aber BWL und Germanistik, um die Jahrtausendwende die bei Frauen beliebtesten Studienfächer, sind nichts für sie. Schließlich wählt sie Lateinamerikastudien - gerade hat Spanisch Französisch von Rang 2 der beliebtesten Fremdsprache nach Englisch verdrängt. Sie denkt nicht darüber nach, dass der Einstieg ins Berufsleben als Geisteswissenschaftlerin schwierig sein könnte. Mit guten Noten, glaubt sie, findet man immer eine Stelle.
Im Jahr 2001 schockieren die Terroranschläge des 11. September die Welt, einen Monat später bombardieren die USA Afghanistan. Die Anzeichen für den Klimawandel sind alarmierend, die Umsetzung des Kyoto-Protokolls geht viel zu langsam voran. Stefanie ist wütend, aber sie sieht nicht, was sie selbst tun könnte. Ihre Eltern werfen ihr mangelnden Einsatz vor, sie seien früher für ihre Ideale auf die Straße gegangen. Stefanie findet, sie sollten erst mal weniger Auto fahren und nicht mehr so viel Fleisch essen, dann könne man weiterreden.
Im Studium geht Stefanie ein drittes Mal ins Ausland, ein Semester Córdoba. Manches ist nun einfacher: Spanien ist in Europa und hat mittlerweile dieselbe Währung, die Flüge sind spottbillig, ihre Mutter kommt sie sogar besuchen. Und Steffi hat gelernt, sich schnell an einem neuen Ort zurechtzufinden, ein Leben in einen Koffer zu packen, Beziehungen in der Heimat auf Stand-by zu schalten.
Nach dem Abschluss schlägt sie sich trotz hervorragender Studienergebnisse einige Jahre lang mit Praktika und befristeten Stellen durch, wie viele ihrer gleichaltrigen Bekannten: Im Jahr 2007 arbeitete jeder Vierte zwischen 25 und 34 in Teilzeit, Leiharbeit oder auf einer befristeten Stelle. Trotzdem widerspricht Steffi, wenn ihr Vater schimpft, das sei doch Ausbeuterei, wie könne man nur Akademiker als Praktikanten beschäftigen. Sie kennt viele Ingenieure und Facharbeiter, die keine Probleme hatten, einen Job zu finden. Nur mit ihrem Studium ist es eben nicht so einfach. Aber das war es ihr wert.
Manchmal wird Steffi das alles zu viel. Eine Familie, Sicherheit, ein Haus im Grünen wie ihre Eltern - eigentlich wäre das schön. Stattdessen führt sie seit Jahren eine Fernbeziehung, weil ihr Freund und sie keine Stelle in derselben Stadt finden, hat noch nicht einmal ihren Studienkredit getilgt, und einen Riester-Vertrag müsste sie auch dringend abschließen. Aber dann wieder sieht sie, wie viel mehr sie schon erlebt hat als ihre Eltern in ihrem Alter. Sie hat Freunde auf der halben Welt - auch wenn sie die gerade vor allem auf Facebook trifft, weil sie endlich Aussicht auf eine Festanstellung hat und keinen Urlaub nehmen kann.
An diesem Samstag feiert sie ihren 30. Geburtstag. Es kommt Besuch aus Spanien, aber von den alten Freunden aus Schulzeiten können viele nicht dabei sein: Manche haben längst Kinder und ein Reihenhaus, eine Bekannte hat nach ihrer Ausbildung bei einer Bank eine steile Karriere gemacht und lebt in New York, und ein Junge aus der Nachbarschaft ist vor vier Jahren tödlich verunglückt - etwa eins von 100 Kindern stirbt vor dem 30. Lebensjahr. Statistisch gesehen wird Steffi noch 53 Jahre leben, 1,3 Mal verheiratet sein und ein bis zwei Kinder bekommen. Vielleicht kommt aber alles ganz anders - Steffi wird sich noch oft entscheiden müssen.
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